Zeitsprünge Bukarest

Visueller Artikel von Gerlinde Schuller


4 Oktober 2022 . 7 min.

Bukarest wird 1659 zunächst Landeshauptstadt des Fürstentums Walachei und später Rumäniens. Die Stadt ist politischer, wirtschaftlicher und kultureller Mittelpunkt des Landes und war schon immer Schauplatz turbulenter politischer Umwälzungen.

In den vier Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wächst die Hauptstadt auf mehr als das Doppelte ihrer Einwohnerzahl und durchläuft kritische Transformationen unter dem kommunistischen Diktator Nicolae Ceaușescu.

Heute ist die Stadt sowohl eine zeitgenössische Metropole als auch ein öffentliches Museum kulturellen Erbes.


1956

Mitte der 50er Jahre besuchen Fotojournalisten aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), die rumänische Hauptstadt Bukarest, um das öffentliche Leben zu dokumentieren.

Sie finden eine moderne, kulturbegeisterte Stadt vor, die sowohl für das reiche Bürgertum als auch für Arbeiter zugänglich ist. Rumänien ist seit 1948 Volksrepublik und auf dem Weg ein Land zu werden in dem der Wohlstand ein Recht für alle ist.

Das Staatsoberhaupt Gheorghe Gheorghiu-Dej leitet die Sowjetisierung Rumäniens und den Aufbau des Sicherheitsdienstes Securitate ein. Industrie und Landwirtschaft werden verstaatlicht.

Bukarest hat 1,2 Millionen Einwohner und wächst rasant. Bauern kommen zunehmend in die Stadt, um in den großen Industriebetrieben Arbeitsplätze finden. Sie bringen ihre ländliche Lebensweise mit, die das neue Bild von Bukarest mitprägen.

Der in Bukarest ansässige Fotograf Octavian Pavel half bei der Identifizierung der Standorte auf den folgenden Archivbildern.


Vor der Universität von Bucharest,
Boulevard Regina Elisabeta
Blumenstand an der Rumänisch-Orthodoxen Weißen Kirche
Calea Victoriei (Siegesallee), nr. 32-34
Kiosk mit deutschen Zeitungen
Terrasse des Offizierskasinos
Cercul Militar Național
Luftballonverkäufer am Eingang eines Spielzeugladens,
1950er Jahre

1959

Das Capșa Hotel mit dem Gebäude der Telefongesellschaft (Palatul Telefoanelor)
im Hintergrund, 1959


2020 I 1970

Kreuzung Calea Victoriei und Boulevard Regina Elisabeta mit dem Capșa Hotel
und dem Gebäude der Telefongesellschaft, 2022/1970


Anfang der 1970er Jahre ist Bukarest das Machtzentrum des kommunistischen Staatsführers Nicolae Ceaușescu. Die Stadt hat turbulente Jahre hinter sich und vor sich. Davon zeugt der häufige Namenswechsel des ‘Regina Elisabeta Boulevards’.

1870 wird er als ‘Boulevard Doamna Elisabeta’ für den Verkehr freigegeben. Bis 1930 trägt er den Namen ‘Boulevard Academiei‘, um danach in Königin-Elisabeta-Boulevard umbenannt zu werden, nach der ersten Königin von Rumänien.

Im ersten Jahr der rumänischen Volksrepublik 1948, als die mit dem alten Regime verbundenen Namen ausgetauscht werden, wird die Straße ‘Boulevard 6 März’ (Festtag der orthodoxen Christen) genannt. Nach nur 17 Jahren, 1965, nach dem Tod des kommunistischen Führers Gheorghiu-Dej, bekommt sie seinen Namen: ‘Gheorghe Gheorgiu-Dej-Boulevard’.

1970

Kreuzung Calea Victoriei und Boulevard Regina Elisabeta, 1970

1990, nach der rumänischen Revolution wird die Straße zunächst dem liberalen Staatsmann ‘Mihail Kogălniceanu Boulevard’ benannt, um sie 1995 erneut ‘Elisabeta-Boulevard’ zu taufen. Zwei Monate später bekommt sie schließlich den Namen ‘Regina Elisabeta Boulevard’, den sie noch heute trägt.

2022 scheint sich die Perspektive auf dem historischen Foto nicht massgebend verändert zu haben.

2022

Crossing of Calea Victoriei and Boulevard Regina Elisabeta, 2022

Monica Mărăcineanu hat die Kreuzung vorige Woche dokumentiert.
Sie lebt in Bukarest und hat in den letzten fünf Jahren mehr als 4000 Häuser aufgenommen. Mărăcineanu interessiert sich im Besonderen für historische Gebäude, viele in einem renovierungsbedürftigen Zustand. Mit ihrer nahezu systematischen Registrierung dieser Häuser mit historischer Patina, erinnert sie uns daran, wie wichtig der Erhalt von kulturellem Erbe ist.

Die alten Häuser die sie fotografiert, sind Archive einer Vergangenheit, die es wert wären für die nächste Generation erhalten zu bleiben. Mărăcineanu macht uns bewusst, dass wir uns ohne das Wissen um die Vergangenheit nicht wirklich weiterentwickeln können.


2006 I 1969

Luftballons bei der Bukarest Pride, 2006 und
der 1. Mai-Parade in Galați, 1969

1. Mai 1969
Unter der kommunistischen Regierung von Nicolae Ceaușescu wird der 1 Mai, als ‘Tag der Arbeiter’, mit Propagandaveranstaltungen und Paraden (defilare) begangen an denen Tausende von Menschen teilnehmen.

Die Arbeiter sind verpflichtet sich zu beteiligen und werden von Aktivisten der Rumänischen Kommunistischen Partei mobilisiert Lobeshymnen zu skandieren und vor Tribünen mit Parteigenossen zu salutieren. Die Choreographien sind vorgegeben und müssen vorher geflissentlich einstudiert werden. Es ist ein Tag an dem die Kommunistische Partei und Ceaușescu ihre Errungenschaften präsentieren und sich feiern lassen.

Nach der Revolution 1989 wird der 1. Mai noch stets als ‘Tag der Arbeit’ gefeiert, aber nur mit gesellschaftlichen und privaten Veranstaltungen unter freiem Himmel.

3. Juni 2006
Das Bukarest Pride-Festival findet seit 2004 jährlich statt und widmet sich den LGBT-Rechten (lesbisch, schwul, bisexuell, transgender) in Rumänien. Erst drei Jahre zuvor wurde in Rumänien das Gesetz, das öffentliche Erscheinungsformen von Homosexualität bestraft, aufgehoben. Die gleichgeschlechtliche Ehe ist bis heute nicht rechtlich anerkannt.

2022 nehmen bis zu 15.000 Menschen an der Pride Parade teil und werben für mehr Rechte für sexuelle Minderheiten. Sie befürchten Rückschritte in der Gesetzgebung, da die Partei der ungarischen Minderheit (Magyar Polgári Párt) derzeit versucht, ein Anti-LGBT-Gesetz wie im Nachbarland Ungarn durchzusetzen.


1980er Jahre

Arbeiter tragen während einer 1-Mai-Parade ein Porträt
des kommunistischen Staatsführers Nicolae Ceaușescu, 1980er Jahre


2022

Bukarest Pride Parade, 2022


2008 I 1990

Eine Gewerkschaftsdemonstration vor dem
Parlamentspalast in Bukarest, 2008
Rumänische Soldaten vor demselben Gebäude,
einige Monate nach der Revolution, 1990

Der Parlamentspalast (früher ‘Haus des Volkes’) ist Sitz der Rumänischen Abgeordnetenkammer und das zweitgrößte Gebäude der Welt. Es wird von 1983 bis 1989 nach den Vorstellungen des rumänischen Diktators Nicolae Ceaușescu errichtet – eine Arbeitsleistung die von 20.000 Arbeitern, vor allem Militärangehörige, im Dreischichtbetrieb übernommen wird.

Ein schweres Erdbeben im März 1977 liefert Ceaușescu den Vorwand, einen Wiederaufbauplan für Bukarest im Stil des sozialistischen Realismus in Gang zu setzen. Der Parlamentspalast ist das Herzstück dieses Projektes.

Um Platz für dieses Bauwerk der Superlative und seine Infrastruktur zu schaffen, wird ein großer Teil der Bukarester Altstadt abgerissen, darunter 19 orthodoxe christliche Kirchen, sechs jüdische Synagogen, drei protestantische Kirchen und rund 30.000 Wohnungen. Betroffen ist auch das historisch bedeutende Uranus-Viertel aus dem die Menschen zwangsevakuiert werden. Nach internationalen Protesten werden mehrere zum Abriss freigegebene Kirchen aufwendig verlegt.

Ein über Jahrhunderte gewachsenes städtisches Gefüge wird zerstört, was bei vielen Betroffenen zu schweren Traumata führt, von Depressionen bis hin zu Selbstmorden.

Heute ist der Parlamentspalast sowohl eine Erinnerung an die kommunistische Ära als auch ein Symbol der Macht in Rumänien. Bei der Machtsverteilung werden die 17 ethnischen Minderheiten im Land beücksichtigt. Parteien, die nationale Minderheiten repräsentieren, haben – unabhängig von der Stimmzahl – das Recht auf einen Abgeordnetensitz.

Der weitläufige Platz vor dem Gebäude wird seit der rumänischen Revolution für Demonstrationen jeder Art genutzt.

1980er Jahre

Verlegung der Kirche Schitul Maicilor, 1982
und des Klosters Mihai Vodă, 1985
Zwangsräumungen im Wohnviertel Uranus,
ca. 1984
Die Baustelle des Parlamentspalastes,
1980er Jahre

1990

Soldaten machen Schnappschüsse
vor dem Parlamentspalast, 1990

2022

In den letzten zehn Jahren hat Bukarest sich zu einem beliebten Touristenziel entwickelt. Viele monumentale Bauten wurden renoviert, die Sehenswürdigkeiten sind besonders herausgeputzt. Die Stadt gibt sich weltoffen. Gleichwohl hat sie eine raue und verwunderliche Seite, die nicht jeder zu sehen bekommt oder sehen möchte. Wer diese Eigenschaften von Bukarest wie kein anderer registriert, ist Dragoș Alexandru.

Ich sehe was, was du nicht siehst
Fotodokumentation von zufälligen Momenten in Bukarest, Rumänien von Dragoș Alexandru

2015-2022

2021
2021
2012

Dragoș Alexandru’s Aufnahmen von der Stadt erscheinen zeitlos.
So fotografiert er den Parlamentspalast (früher Haus des Volkes), der meistens als Prachtbau dargestellt wird, im Nebel. Mysterieus thront er hinter Taxen, Touristenbussen und einer Reihe mobiler Toilettenhäuschen hervor, ohne einen spektakulären Eindruck zu machen.

Der Parlamentspalast vereinbart die kommunistische Diktatur Nicolae Ceaușescu’s und die jetztige Demokratie in sich. Auch in Alexandru’s Fotografie verschmelzen Zeitschichten miteinander. Es ist zeitlich nicht sofort einzuordnenen und das macht seinen Reiz aus.

Vielleicht gelingt es Alexandru diese Zeitlosigkeit so gut einzufangen, weil er die wichtigste Zeitenwende in Rumänien selbst mitgemacht hat. Er ist im kommunistischen Rumänien aufgewachsen, hat die Revolution 1989 und den Wandel danach miterlebt.
Seit 20 Jahren lebt er in Bukarest und hat Gefallen daran gefunden Situationen zu dokumentieren die sich im Stillen, im Vorübergehen abspielen. Alexandru spielt mit uns das bei Kindern beliebte Ratespiel ‘Ich sehe was, was du nicht siehst’, und erfasst Umstände, denen die meisten von uns keine Beachtung schenken würden.

Oftmals entstehen dabei Bilder von Zufallsmomenten. Da läuft ein einsamer Hahn über den Weg, ein Mann ist auf seinem Akkordeon eingenickt, ein gemaltes Frauenporträt wurde vor dem Haustor abgestellt und eine Traube von neun Luftballons an einem Baum vergessen. Zunächst einmal scheinen dies Motive zu sein, wie sie in jeder Großstadt vorkommen könnten. Schaut man jedoch genau hin, stellt man fest: Dies kann nur Bukarest sein!

Alexandru hat seinen Röntgenblick auf die Stadt perfektioniert und zeigt uns ihre fremde, verstörende Seite in visuell reizvollen Schnappschüssen. Es sind oft Situationen die sich im nächsten Augenblick verflüchtigt haben. Während wir noch darüber grübeln würden: Wo läuft der Hahn hin? Liegt der Mann nicht unbequem? Wer ist wohl die Frau auf dem Gemälde? Warum fliegen die Luftballons nicht weg? hat Alexandru schon längst ein Foto gemacht und ist bereits auf der Suche nach einem neuen Überraschungsmoment.


2018
2010
2010
2022

Ich habe Dragoș Alexandru über seine Vorgehensweise bei der Dokumentation von Bukarest befragt. Hier können mein Interview mit ihm lesen.



Folgen Sie meiner visuellen Recherche auf Instagram.

Teilen: