Wie Dragoș Alexandru Bukarest, die Hauptstadt von Rumänien, fotografisch dokumentiert
Artikel und Interview von Gerlinde Schuller
Oktober 2022 . 6 min.
In den letzten zehn Jahren hat Bukarest sich zu einem beliebten Touristenziel entwickelt. Viele monumentale Bauten wurden renoviert, die Sehenswürdigkeiten sind besonders herausgeputzt. Die Stadt gibt sich weltoffen. Gleichwohl hat sie eine raue und verwunderliche Seite, die nicht jeder zu sehen bekommt oder sehen möchte. Wer diese Eigenschaften von Bukarest wie kein anderer registriert, ist Dragoș Alexandru.
Alexandru’s Aufnahmen von der Stadt erscheinen zeitlos. So fotografiert er den Parlamentspalast (früher Haus des Volkes), der meistens als Prachtbau dargestellt wird, im Nebel. Mysterieus thront er hinter Taxen, Touristenbussen und einer Reihe mobiler Toilettenhäuschen hervor, ohne einen spektakulären Eindruck zu machen.
Der Parlamentspalast vereinbart die kommunistische Diktatur Nicolae Ceaușescu’s und die jetztige Demokratie in sich. Auch in Alexandru’s Fotografie verschmelzen Zeitschichten miteinander. Es ist zeitlich nicht sofort einzuordnenen und das macht seinen Reiz aus.
Vielleicht gelingt es Alexandru diese Zeitlosigkeit so gut einzufangen, weil er die wichtigste Zeitenwende in Rumänien selbst mitgemacht hat. Er ist im kommunistischen Rumänien aufgewachsen, hat die Revolution 1989 und den Wandel danach miterlebt.
Seit 20 Jahren lebt er in Bukarest und hat Gefallen daran gefunden Situationen zu dokumentieren die sich im Stillen, im Vorübergehen abspielen. Alexandru spielt mit uns das bei Kindern beliebte Ratespiel ‘Ich sehe was, was du nicht siehst’, und erfasst Umstände, denen die meisten von uns keine Beachtung schenken würden.
Oftmals entstehen dabei Bilder von Zufallsmomenten. Da läuft ein einsamer Hahn über den Weg, ein Mann ist auf seinem Akkordeon eingenickt, ein gemaltes Frauenporträt wurde vor dem Haustor abgestellt und eine Traube von neun Luftballons an einem Baum vergessen. Zunächst einmal scheinen dies Motive zu sein, wie sie in jeder Großstadt vorkommen könnten. Schaut man jedoch genau hin, stellt man fest: Dies kann nur Bukarest sein!
Alexandru hat seinen Röntgenblick auf die Stadt perfektioniert und zeigt uns ihre fremde, verstörende Seite in visuell reizvollen Schnappschüssen. Es sind oft Situationen die sich im nächsten Augenblick verflüchtigt haben. Während wir noch darüber grübeln würden: Wo läuft der Hahn hin? Liegt der Mann nicht unbequem? Wer ist wohl die Frau auf dem Gemälde? Warum fliegen die Luftballons nicht weg? hat Alexandru schon längst ein Foto gemacht und ist bereits auf der Suche nach einem neuen Überraschungsmoment.
2015-2022
“Mich reizt die Möglichkeit, einen Moment festzuhalten, der meist nicht länger als 1/200 Sekunde dauert.”
Dragoș Alexandru
“Ich finde es faszinierend, Situationen oder Objekte einzufangen, die nur durch menschliches Zutun existieren.”
Dragoș Alexandru
Ich fragte Dragoș Alexandru nach seiner Vorgehensweise bei der Dokumentation von Bukarest.
Gerlinde Schuller: Warum haben Sie angefangen, das tägliche Leben in Bukarest zu dokumentieren?
Dragoș Alexandru: Aus dem einfachen Grund, weil es die Stadt ist, in der ich lebe und in der ich die meiste Zeit verbringe. Ich wurde in Ploiești geboren, aber Bukarest ist seit 20 Jahren meine Wahlheimat.
Wann haben Sie Bukarest zum ersten Mal besucht?
In den 90er Jahren, und ich erinnere mich, dass die Gebäude, Straßen und Parks viel größer und viel belebter waren als in Ploiești.
Bukarest war schon immer ein Ort des radikalen Wandels. Was waren die auffälligsten Veränderungen, die Sie in den letzten 20 Jahren beobachtet haben?
Ich würde sagen, die Architektur, die durch einen Mangel an Zusammenhang gekennzeichnet ist und die Zunahme von Autos und Einwohnern. Bukarest wird mehr und mehr zu einer unfreundlichen Stadt.
Sie sind im kommunistischen Rumänien aufgewachsen.
Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Als Kind habe ich nicht viel gelitten. Natürlich gab es im Winter Zeiten, in denen es drinnen kalt war, die Busse überfüllt waren und der Strom ab und zu abgestellt wurde, aber ich hatte nie das Gefühl, dass mir in meiner Familie etwas fehlte. Das lag aber auch daran, dass ich noch ein Kind war und man sich als solches nicht allzu sehr um die Meinungsfreiheit kümmerte – um nur ein Beispiel zu nennen.
Inwieweit haben Sie die rumänische Revolution als Kind mitbekommen?
Ich erinnere mich, dass ich in den Winterferien bei meinen Großeltern war und den Sturz von Ceaușescu im Fernsehen gesehen habe. Ich konnte es nicht glauben. Obwohl ich erst 11 Jahre alt war, wurde mir sofort klar, dass etwas wirklich Wichtiges passiert war.
Wann haben Sie angefangen zu fotografieren?
In den 90er Jahren, als ich meine erste analoge Kamera bekam, und ernsthafter wahrscheinlich seit den 2000er Jahren, als ich mir eine neue Kamera kaufte.
Was reizt Sie an der Fotografie?
Ich habe keine Ausbildung als Fotograf, ich mache es als Hobby. Mich reizt die Möglichkeit, einen Moment festzuhalten, der meist nicht länger als 1/200 Sekunde dauert.
Wie wählen Sie Ihre Motive aus?
Meistens fotografiere ich, wenn ich eine bestimmte Situation als einen Kontext interpretiere, der etwas auf einer höheren Ebene vermitteln kann und der, wenn er in ein Bild umgesetzt wird, eine Emotion beim Betrachter des Fotos auslöst. Ich interessiere mich für unerwartete Szenen, die man zufällig auf der Straße findet und die man selten zu fotografieren plant. Aber ich habe einige Lieblingsmotive, und einige von ihnen werden irgendwann zu einem Fotoprojekt.
Bei einem solchen Langzeitprojekt konzentriere ich mich auf ein bestimmtes Thema, zum Beispiel auf architektonische Übergänge oder verkleidete Autos. Im Moment denke ich über eine Serie nach, die von der Dramaserie Twin Peaks inspiriert ist.
Nehmen Sie Kontakt mit den Menschen auf der Straße auf?
Normalerweise ziehe ich es vor, Kontakt zu vermeiden. Im Grunde bin ich kein kontaktfreudiger Mensch, und ich glaube auch, dass das die Objektivität, die ich für das Foto anstrebe, beeinträchtigen würde. Es würde den ursprünglichen Moment zerstören.
Warum haben alle Ihre Fotos den Charakter von Schnappschüssen?
Ich mag keine inszenierte Fotografie. Um die Stadt zu dokumentieren, bevorzuge ich Straßen- und Dokumentarfotografie mit einem spontanen Stil. Aber je nach Projekt, ziehe ich manchmal einen anderen Fotostil in Betracht.
Auf vielen Ihrer Fotos sind keine Personen zu sehen, sondern Objekte oder Situationen, die von Menschenhand geschaffen sind. Die Menschen sind also immer in der Stadt präsent, auch wenn sie nicht zu sehen sind. Was interessiert Sie daran?
Ich finde es faszinierend, Situationen oder Objekte einzufangen, die nur durch menschliches Zutun existieren. Oft sind die Menschen, die diese Situation oder diesen Gegenstand geschaffen haben, auf meinem Foto nicht mehr zu sehen. Ich denke, dass dies den Betrachter zum Nachdenken anregen kann. Es liegt an uns, das, was zurückbleibt, zu interpretieren.
Wenn ich einen verlassenen Gegenstand oder das Schaufenster eines längst geschlossenen Geschäfts entdecke, Dinge, in die jemand in der Vergangenheit Energie gesteckt hat, frage ich mich immer: Warum wurde es verändert, wann und von wem? Hat es seinem Zweck gedient, was war überhaupt der Zweck?
Ihre Anwesenheit ist in ihren Fotos nie direkt zu sehen. Wie objektiv sollen Ihre Fotos sein?
Ich möchte nicht mit dem interagieren, was vor der Kamera passiert. Subjektivität kommt aber ins Spiel, wenn ich eine bestimmte Szene, einen Moment und eine Perspektive wähle. Es fängt schon damit an, dass es meine Idee ist, diesen bestimmten Moment in meinem Foto festzuhalten.
Funktionieren die Fotos für Sie wie ein persönliches, visuelles Tagebuch?
Ich liebe es, Orte und Menschen zu dokumentieren und hoffe, dass meine Fotos im Laufe der Zeit einen dokumentarischen Wert haben werden. Sowohl für mich selbst als auch für andere.
Schauen Sie sich die Fotografien von Dragoș Alexandru an:
badlion.ro
instagram.com/badlion_goes_bad
adragos.tumblr.com/archive
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